Vita nuova – eine Metapher für die Neuentdeckung der Berufung

Das neue Leben: Dante Alighieris Geschichte seiner Liebe birgt ungeahnte Parallelen um die eine Sache zu identifizieren, die es wert ist im Leben zu verfolgen.

In diesem Buch, welches meine Erinnerung ist, auf der ersten Seite des Kapitels in dem der Tag beschrieben wird an dem ich dich zum ersten Mal traf, kann man die Worte lesen: »Hier beginnt ein neues Leben«.

In quella parte del libro de la mia memoria, dinanzi a la quale poco si potrebbe leggere, si trova una rubrica la quale dice: Incipit vita nova.

Dante Alighieri

Mit diesen Worten leitet Dante Alighieri seine Liebesdichtung »La Vita Nuova« ein. In autobiografischer Weise setzt er sich mit seinem Innersten auseinander und erzählt die Geschichte einer Liebe, die sein ganzes Leben zu verändern und zu erneuern vermag. Sehr früh in seiner Jugend kam es zu einer Begegnung mit der glorreichen Herrin seiner Seele. Wie er selbst sagt, wird diese Dame seines Herzens von seinen Zeitgenossen mangels besseren Wissens Beatrice genannt.

Obwohl er durch diese Gefühle beherrscht wird, sieht er sie als die Liebe seines Lebens an, die vor ihm rein und göttlich erscheint. Diese Erfahrung führt ihn zu einer tiefen Auseinandersetzung mit der Minne, oder moderner ausgedrückt, der Liebe. Sie bewegt und inspiriert ihn, macht ihn traurig, sogar krank. Seinem Umfeld verschweigt er jedoch die wahre Identität jener Person, mit der er sich in tiefer Zuneigung verbunden fühlt. Gegenüber seinen Freunden bedient er sich zudem einer List und täuscht die Liebe zu einer anderen Edelfrau vor um seine wahren Gefühle nicht Preis zu geben.

Beatrice distanziert sich schließlich, indem sie ihm den Gruß verweigert. Der frühe Tod seiner wahren Liebe stürzt ihn in tiefe Verzweiflung. Als eine neue Liebe zu einer anderen Frau zu erwachen beginnt, empfindet er dies als Verrat an der zur Unsterblichkeit erhobenen reinen Liebe seiner Jugend. Zuletzt bleibt nicht mehr als die Hoffnung auf eine zukünftige neue Auseinandersetzung mit seiner Erinnerung.

Das Buch der Erinnerung

Die einleitenden Worte nehmen Bezug auf das Buch der Erinnerung. Wenn die Erinnerung im Geiste Erfahrungen der Vergangenheit abruft, wodurch werden wir befähigt zwischen der Erinnerung und der Imagination zu unterscheiden? Die Kraft der Erneuerung geht einher mit dem Abschluss eines früheren Lebens, indem sie ein Neues zulässt. Mnemosyne, die griechische Göttin der Erinnerung und Mutter der Musen, ist die Vermittlerin eines kreativen Prozesses der in Korrespondenz mit der Erinnerung steht. Es ist die Kunst die Vergangenheit in einem neuen Licht zu sehen.

Die anfänglich geschilderte Geschichte besingt eine reine und unerfüllte, sogar platonisch ausgeprägte Liebe zu einer Frau. Die Liebe berührt nicht nur das Innerste eines Menschen, sie verändert auch das Denken und erweckt den Drang zur Tat. Ist sie eine Wegbegleitererin des Lebens, so erfüllt sie das Denken und Handeln mit Freude und Begeisterung. Die Fähigkeit zur Begeisterung, welche sich bis zur Leidenschaft steigern lässt, ist wiederum eine Grundlage für besonderes Engagement und Leistungsbereitschaft.

Der Kreativität folgen

Die Echtheit der Personen und Ereignisse in Dantes Vita Nuova sind nach wie vor umstritten. Abgesehen von der Bedeutung der Zahlensymbolik in seinem Werk ließe sich noch eine weitere Interpretation im Hinblick auf den Einfluss der Kreativität im Leben eines Menschen erörtern. Der Wunsch die Kreativität frei auszuleben ist besonders bei künstlerisch ambitionierten Menschen stark ausgeprägt. Die kreativen Neigungen und Interessen sind sehr oft schon in der frühen Jugend zu erkennen. Befürchtungen mit diesen künstlerischen Tätigkeiten nicht ausreichend für den eigenen Lebensunterhalt sorgen zu können, führen den kreativen Menschen oft zu der Annahme sich einer der solideren Berufsgruppen zuwenden zu müssen. Manche erlernen ein Handwerk oder wenden sich einer kaufmännischen Ausbildung zu. Des Öfteren wird ein Studium als Grundlage für bessere Berufsaussichten in Betracht gezogen, aber jedenfalls sollte vorerst einmal ein Beruf ausgeübt werden der einen ernährt. Die künstlerischen Ambitionen werden dann gegebenenfalls als Hobby oder im Rahmen einer Freizeitgestaltung aktiv betrieben. Für dergleichen Aktivitäten wurde wohl der Begriff »brotlose Kunst« geschaffen. Dadurch soll ausgedrückt werden, dass diese Tätigkeiten oder Handlungen für den Ausführenden zwar von großer Bedeutung sind, sich als Beruf aber nur sehr wenig dafür eignen um damit sein Geld zu verdienen.

Wenn nun im Laufe der Jahre das Buch der Erinnerung vom Dachboden des Lebens hervorgekramt wird, entweder durch einen Schicksal formenden Zufall oder durch andere Umstände, so entsinnt man sich wieder seiner Jugendliebe, der Kreativität, die in der Form einer Muse der Künste auftreten mag und die dieselbe Anziehungskraft und Leidenschaft im Leben zu entfachen vermag wie die Liebe zu einer Frau. Falls diese Bindung zu einer Ausdrucksform der Kreativität tatsächlich so groß ist und immer war, stellt man mitunter fest, dass jeder Gedanke und jegliche Aktivität oder Handlung ihre Ursache in dem Wunsch hatte, diese Kreativität ausleben zu können, es aber nicht tat, oder zumindest nicht im vollen Maße. Vielleicht musste man diese Neigung sogar verleugnen um sich dem Beruf, der einem nun mal den Lebensunterhalt beschert, voll und ganz widmen zu können. Das Streben nach Erfolg und der Wille voran zu kommen haben die gesamte Zeit in Anspruch genommen, weshalb die Kreativität verkümmerte bis sie letztendlich starb. Es entfaltet sich die Geschichte einer Jugendliebe – die Liebe zur kreativen Entfaltung der Persönlichkeit – die nun wiederentdeckt wurde, deren man sich wieder besinnt und beschließt ihrem Ruf zu folgen.

Die Wiedergeburt

Mark Twain prägte die Worte: »Es gibt zwei Tage im Leben eines Menschen die von größter Bedeutung sind: der Tag der Geburt und der Tag an dem man feststellt warum«. Der Tag entspricht tatsächlich einer Wiedergeburt, da man erkannt hat von welcher Bedeutung die eigene Berufung im Leben bisher gewesen ist und inwieweit man ihr folgen konnte oder nicht. Deshalb kann man mit den Worten Dantes übereinstimmend sagen: »Hier beginnt ein neues Leben«. Es ist ein Ausblick auf eine hoffnungsvolle Zukunft in der man seiner Grundmotivation im Leben folgt und dadurch zum eigenen Lebensglück zurückfindet. Es handelt sich um die EINE Sache, für die man bereit ist alles andere zurück zu lassen.

Dies könnte Sie auch interessieren
Inszenierung
Weiterlesen

Die Kunst der Inszenierung – das Spiel mit der Aufmerksamkeit und den Gegensätzen

Von Menschen positiv wahrgenommen zu werden und Aufmerksamkeit zu erhalten ist nicht zuletzt deshalb eine Kunst, weil es auch die authentische Präsenz der eigenen Persönlichkeit erfordert. Attraktivität ist nicht die innere Ausdrucksform von Schönheit allein – sie will sich auch präsentieren und inszenieren. Warum die (Selbst-)Vermarktung eine Kunst ist, erfahren Sie in diesem Beitrag.
Weiterlesen
Perfektion Zielscheibe
Weiterlesen

Perfektion – Feind oder Freund?

Schneller, besser, weiter – in unserer Leistungsgesellschaft haben unsere täglichen Leistungen einen hohen Stellenwert. Kein Wunder also, dass Perfektionismus bei vielen Menschen eine Eigenschaft ist, die den Charakter prägt. Streben auch Sie in vielen Bereichen nach Perfektion? Ist dieses Ziel überhaupt erreichbar oder doch am Ende nur eine Illusion?
Weiterlesen