Perfektion – Feind oder Freund?

Schneller, besser, weiter – in unserer Leistungsgesellschaft haben unsere täglichen Leistungen einen hohen Stellenwert. Kein Wunder also, dass Perfektionismus bei vielen Menschen eine Eigenschaft ist, die den Charakter prägt. Streben auch Sie in vielen Bereichen nach Perfektion? Ist dieses Ziel überhaupt erreichbar oder doch am Ende nur eine Illusion?

Ist Perfektion erreichbar?

Zunächst einmal müssen wir uns mit der Frage beschäftigen, wie wir das Wort „perfekt“ an sich eigentlich definieren. Wenn Menschen etwas als perfekt bezeichnen, dann meinen sie damit eine gänzliche Vollkommenheit, ohne jeglichen Makel und frei von Fehlern. Primär gilt es zwischen Perfektion und Genauigkeit zu unterscheiden. Man denke etwa an die Präzision, die im Rahmen eines Fertigungsprozesses zu erreichen ist. Maschinenteile für Flugzeuge oder Messgeräte müssen höchsten qualitativen Standards genügen. Mithilfe von mathematischen Modellen sollen in der Forschung präzise Vorhersagen abgeleitet werden, um etwa Wetter- oder Klimaprognosen zu erstellen.

Der Mensch kann Fähigkeiten und Talente so weit perfektionieren, um darin Meisterschaft zu erreichen. Absolute Fehlerlosigkeit oder Vollkommenheit wird der Mensch allerdings niemals erreichen. Warum nicht? Der Mensch ist ein physisches Wesen aus Fleisch und Blut. Alles Materielle ist begrenzt. Die menschliche Lebenszeit ist begrenzt. Energie ist nur begrenzt vorhanden. Wissen ist begrenzt oder unvollständig. Auch Ereignisse und Gegebenheiten werden in einen zeitlich begrenzten Rahmen gesetzt. Ziele und Vorhaben sind innerhalb eines begrenzten Zeithorizontes zu realisieren. Der menschliche Geist kann mit Unendlichkeit wenig anfangen. Die Endlichkeit ist die Folge unseres erreichbaren Horizontes. Wir benötigen einen Bezugsrahmen und Grenzen.

Innerhalb der für uns naturgegebenen Grenzen bewegen, leben, arbeiten und existieren wir. Wenn jemand Perfektion anstrebt, was genau ist dann eigentlich darunter zu verstehen? Ist diese Art von Perfektion für uns Menschen überhaupt gesund? Wer immer und überall perfekte Leistungen vollbringt und nie Fehler begeht, der nimmt sich selbst die Chance, aus seinen Fehlern zu lernen und sich selbst dadurch weiterzuentwickeln. Das Leben wäre eintönig, langweilig und grau. Ist Perfektion also das Streben nach Fehlerlosigkeit und ein Jagen nach den Grenzen des menschlich Machbaren?

Ist Fehlerlosigkeit unmenschlich?

Fehler passieren. Unvollkommenheit ist etwas zutiefst Menschliches. Wir müssen sogar Fehler zulassen, um zu lernen. Fehler sind so sehr mit der menschlichen Natur verknüpft, dass in der Entwicklung von Robotern oder künstlicher Intelligenz Fehlerhaftigkeit als Eigenschaft in künstlichen Systemen mit eingeplant werden soll. Man spricht davon, dass Maschinen das Fehlermachen erlernen sollten, um menschlicher zu wirken. Bei näherer Betrachtung sind Fehler nicht gleich Fehler. Flüchtigkeitsfehler oder Irrtümer und Fehleinschätzungen treten nicht einfach rein nach dem Zufallsprinzip auf.

Eine künstliche Intelligenz, sei sie auch noch so weit fortgeschritten, hat mit denselben Ausgangsbedingungen zu tun wie der Mensch: Informationen sind begrenzt. Wir können niemals alle Quellen berücksichtigen, nicht jede Information nachprüfen und auch nicht alle zukünftig möglichen Entwicklungen vorhersehen, um zu einer Entscheidung zu gelangen. Die Zeit ist knapp, um eine Entscheidung zu treffen. Jetzt oder nie: mach’ ich es oder lass’ ich es sein?

Auch Computer haben nur begrenzt Ressourcen zur Verfügung und für die Entscheidungsfindung wird Rechenzeit benötigt. Diese ist auf Grund von begrenzten Kapazitäten ebenfalls limitiert und wertvoll. Um diesem Umstand zu begegnen, werden nummerische Näherungsverfahren eingesetzt. Fehler und Ungenauigkeiten sind eine Konsequenz der Begrenztheit. Intelligenz ist die Fähigkeit trotz begrenzter Information zu sinnvollen Entscheidungen und Aussagen zu gelangen – sinngemäß gilt dies auch für die Informationsflut. Wir denken und handeln innerhalb eines Informationskosmos. Dieser muss für den Intellekt begreifbar bleiben. Mit dieser herausfordernden Unsicherheit, die unser physisches Dasein mit sich bringt, müssen wir zurechtkommen.

Perfektionismus ist die Liebe zur abstrakten Welt der Ideen.

JP Weiner

Die perfektionistische Sicht auf die Welt ist also eine rein immaterielle Anschauung auf die zugrundeliegenden Muster und Mechanismen des Lebens und der materiellen Welt. Wir haben es mit einer abstrakten Welt zu tun, die sich vor unserem geistigen Auge darstellt. Sie ist deshalb auch mehr dem Reich der Fantasie, der Illusion und den Gedanken zuzuordnen als der realen Welt. Ihr Ursprung ist die Kreativität und der Geist. Im unbegrenzten Raum der Kreativität allein kann sich die Idee vollends entfalten, frei und ohne Restriktionen.

Perfekt unperfekt?

Die Unvollkommenheit ist unser Freund. Um ein Vorhaben der ursprünglichen Intention gemäß zu verwirklichen, benötigen wir Zeit und Ressourcen. Innerhalb dieser Grenzen werden wir jegliches Projekt, ein Produkt, eine Fertigkeit oder ein Problem einordnen. Es geht darum, die Fähigkeit zu erlangen und zu kultivieren, mit begrenzten Mitteln zur bestmöglichen Lösung für die gestellte Aufgabe zu gelangen. Es bedeutet Erschaffenskompetenz zu erlernen. Wie realisiere ich ein Vorhaben mit den verfügbaren Mitteln innerhalb des gesetzten Zeitlimits? Durch kontinuierliche Verbesserung nähern wir uns der perfekten Lösung an, ohne diesen Zustand je wirklich zu erreichen.

„Wir haben eine geringe Erschaffenskompetenz aber eine unglaublich hohe Verbesserungskompetenz. […] der Prototyp wird nie perfekt sein, egal wie du es angehst.“

Bassfeld, Florian: Minimalismus

Perfektionismus und Unvollkommenheit sind per se zwar gegenteilige Begriffe, schließen sich jedoch nicht zwangsläufig aus – perfekt unperfekt ist hier das Stichwort! Oder anders ausgedrückt – „sehr gut“ an Stelle von „perfekt“. Die meisten erfolgreichen Menschen haben sich von ganz unten bis nach ganz oben gearbeitet. Sie fragen sich, wie diese Menschen das geschafft haben? Nun, der Schlüssel liegt darin, zu verstehen, dass auch Fehler in gewisser Hinsicht perfekt sein können! Perfekt, um sich neue Fähigkeiten aneignen zu können. Perfekt, um neue Wege einzuschlagen. Perfekt, um die eigenen Stärken zu erkennen und diese für das eigene Leben zu nutzen. Perfekt, um die Lebensqualität auf ein neues Level zu bringen.

Ist Perfektionismus etwas Schlechtes?

Nein, das ist es nicht. Hinter dem starken Drang, alles perfekt machen zu müssen, steckt meist die Angst vor Ablehnung: „Bin ich nicht gut genug, dann verdiene ich keine Liebe“. Dieser Glaubenssatz wird uns meist in unserer Kindheit (in aller Regel sogar unwillentlich) von unserem Umfeld vermittelt. Doch das Streben nach Perfektionismus kann Ihr Leben sogar bereichern, wenn Sie die Definition des Wortes „perfekt“ verändern.

Gehen Sie tief in sich und überlegen Sie, welche unbefriedigten Bedürfnisse in Ihnen schlummern – diese Bedürfnisse sind immer immateriell! Es kann gut sein, dass die Erkenntnis nach diesen Bedürfnissen im ersten Moment ziemlich weh tut – es handelt sich hier um einen Teil in uns, der sehr verletzlich ist. Es könnte sich beispielsweise um den Wunsch nach Harmonie und Ganzheit handeln – eins werden mit sich selbst und seinem Umfeld. Widmen Sie Ihre Aufmerksamkeit genau diesem fehlenden Teil und überlegen Sie, wie Sie diesen Teil in sich heilen können. So wird es Ihnen leichter fallen, die Begrenztheit – die allgegenwärtig ist – leichter akzeptieren und in Ihr Leben integrieren zu können. Begrenztheit ist kein Mangel und sollte daher kein Mangelbewusstsein hervorrufen. Es handelt sich vielmehr um eine kalkulierte Reduktion des vollkommenen Vorbildes zugunsten der Machbarkeit. Es entspricht einer Konzentration auf das Wesentliche.

So können Sie ein ganz neues Level der Persönlichkeitsentwicklung erreichen und das Streben nach Perfektion in ein Streben nach Erfüllung umwandeln. Sie werden erkennen, dass ein „unperfektes“ Leben so viel mehr für Sie bereithalten kann als Sie es je für möglich gehalten hätten – im positiven Sinne! Unperfekt bedeutet das Wesentliche im Leben zu verfolgen und Unwesentliches hinter sich zu lassen. Was als unwesentlich gilt – für das Wesen einer Sache nicht von Bedeutung – bestimmen Sie selbst.

„… derjenige, der das Leierspielen lernt, lernt leierspielen, indem er auf der Leier spielt. […] Also leuchtet es […] ein, dass die Verwirklichung […] früher ist als das Vermögen.“

Aristoteles Metaphysik: Band IX, Kap. 8, 1049b-1050b

Die Unvollkommenheit zu begrüßen ist zugleich auch Ihre Chance – eine Chance etwas neues großartiges zu beginnen. Es muss nicht von Anfang an perfekt sein. Seien Sie mutig. Wagen Sie das Unerreichbare. Denken Sie das Unfassbare. Glauben Sie an das Unmögliche. Sie sind sich dessen bewusst, dass sie am Anfang zwar Fehler begehen, aber durch die neue Erfahrung lernen werden. Mit dem Wissen schreiten Sie auf Ihrem Weg voran, noch fokussierter und selbstbewusster, weil Sie sich laufend verbessern und Ihre Fähigkeiten trainieren werden.

Streben Sie also danach, die beste Version Ihrer selbst zu werden! Verstehen Sie das Leben als Entwicklungsprozess. Probleme auf dem Weg zum Ziel nehmen die Rolle eines persönlichen Coachs ein, wenn Sie die Herausforderung stets annehmen. Nutzen Sie die versteckten Informationen, die Ihnen Ihr Unterbewusstsein in Form von Perfektionismusbestrebungen mitteilen möchte, als Trampolin für den Sprung zum höheren Selbst, indem Sie das große Ganze im Sinn behalten. Bewahren Sie sich Ihr Idealbild, ohne die Anforderung zu stellen es je erreichen zu müssen. Der Weg ist das Ziel.

Fazit

Die Unvollkommenheit gehört zu unserem Leben wie die Luft zum Atmen. Sie ist kein Feind, sondern eigentlich sogar ein guter Freund, den wir zu schätzen wissen sollten – denn wäre ein Leben ohne Herausforderungen nicht eigentlich ziemlich langweilig? Lernen Sie sich selbst besser kennen und verstehen, hinterfragen Sie Ihre Glaubenssätze und ersetzen sie diese ggf. durch neue, realistische Glaubenssätze und lassen Sie sich überraschen, wie sehr sich Ihr Leben zum Positiven verändern wird. Wenn etwas z. B. nicht so gelaufen ist wie geplant, dann haben Sie nicht versagt, sondern Sie haben schlicht und ergreifend neue Erfahrungen gesammelt, die Ihnen auf Ihrem weiteren Lebensweg nützlich sein können.

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